„Wir können mehr als nur schießen“
SALTO: Herr Dejori, am Mittwoch den 7. beschäftigt sich das Verwaltungsgericht in Bozen mit den zwei Abschussdekreten vom Herbst 2023. Diese bauen auf dem Gesetz vom 13. Juni 2023 auf „Weideschutzgebiete und Maßnahmen zur Entnahme von Wölfen“. Worum geht es in den zur Diskussion stehenden Gesetzen und Dekreten eigentlich?
Norbert Dejori: Das Gesetz vom Juni 2023 weist für Südtirol all jene Almen als sogenannte Weideschutzgebiete aus, in denen Herdenschutz für „nicht zumutbar“ erklärt wird. Von den über 1500 Almen in Südtirol blieben nach diesem Gesetz nur noch 18 übrig, auf welchen Herdeschutz „zumutbar“ ist, zumutbar nach den Kriterien des Landesgesetzes wohlgemerkt. Somit sagt das erwähnte Gesetz, dass Herdenschutz für 99% der Südtiroler Almen nicht praktikabel sei, auch wenn es natürlich viel mehr Flächen gäbe, die ohne weiteres mit überzeugt betriebenem Herdenschutz zu beweiden wären.
Im Spätsommer hat der Landeshauptmann mit zwei Dekreten insgesamt vier Wölfe zum Abschuss freigegeben. Diese Dekrete wurden durch Rekurse binnen weniger Tage aufgehoben, zum Abschuss kam es nicht. Ich bin kein Jurist, sondern Biologe, daher finde ich es nur folgerichtig, dass es für ein solches Abschussdekret von Arten, die im EU-Artenschutzregelwerk Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie als streng geschützt gelten, ein positives Gutachten von Sachverständigen der Biologie braucht. Entweder von der staatlichen Umweltbehörde ISPRA oder von der Wildbeobachtungsstelle, die von der Landesregierung eingesetzt wurde.
Vor allem das Gutachten der Wildbeobachtungsstelle wurde im Herbst 2023 kontrovers diskutiert. Warum?
Beide Institutionen, und darin sitzen allesamt Fachleute, sind zum Schluss gekommen, dass zu den Abschussdekreten nicht genügend Daten vorliegen, um ein wissenschaftlich fundiertes, positives Gutachten abzugeben.
Die Vereinigung Südtiroler Biologen:innen hat sich hinter die Kollegen und Kolleginnen der lokalen Wildbeobachtungsstelle gestellt, die von einigen Medien zu Unrecht scharf kritisiert wurden. Die Experten und Expertinnen gaben, wohlgemerkt, keine individuelle Beurteilung zu den Wolfsabschüssen ab, sondern bewerteten die Ausgangslage absolut sachbezogen, genauso, wie es ihre Aufgabe ist. Professionelle und faktenbasierte Arbeit kann nur von vorhandenen wissenschaftlichen Daten ausgehen.
Wenn diese fehlen oder lückenhaft sind, was für Südtirol leider zutrifft, kann man keine professionelle, fachliche Beurteilung garantieren. Die Abschussdekrete sollten daher unbedingt auch eine Datenerhebung vorschreiben. Damit kann man sehen, ob der positive Effekt eingetroffen ist, den man sich durch die Abschüsse von jeweils zwei Wölfen in einem Weidegebiet erhofft. Diese Datenerhebung muss methodisch korrekt sein. Einfach nur auf die nächste Weidesaison zu warten, und schauen, ob dann weniger Risse an Nutztieren stattfinden oder nicht, ersetzt keine Studie.
Ganz aktuell, die EU-Generalanwältin hat sich zu den Wolfsabschüssen und dem Weideschutzgesetz in Tirol geäußert. Was sind ihre zentralen Aussagen?
Die Generalanwältin hat sich sehr deutlich zur FFH-Richtlinie bekannt und deren strikte Vorgaben unterstrichen. Sie kommt zum Schluss, dass die Beurteilung, ob in einem bestimmten Gebiet Herdenschutz zumutbar ist, von Fall zu Fall, von Fläche zu Fläche beurteilt werden muss. Es kann nicht pauschal vom Schreibtisch aus festgelegt werden.
Die Generalanwaltschaft der Europäischen Gerichtshofs ist in ihrer Interpretation der FFH-Richtlinie sicher kompetent vorgegangen und arbeitet sachbezogen. Die FFH-Richtlinie ist eine der Grundsäulen des europäischen Naturschutzes. Es kommt aber letztendlich auf die Menschen an, die sie vor Ort umsetzen.
Aber mal abgesehen vom Naturschutz-Regelwerk, täten wir gut daran, die Almen in Südtirol als Wirtschafts- und Lebensraum zu erhalten, auch angesichts der Tatsache, dass es Wölfe bei uns gibt und auch in Zukunft geben wird. Wir werden nicht drum herum kommen, uns ernsthaft mit der konkreten Arbeit rund um den Schutz und die Betreuung der Weidetiere zu beschäftigen, unaufgeregt und pragmatisch.Wie nutzen Wölfe ein Gebiet? Wie sehen Sie die Weideschutzgebiete aus wildökologischer Sicht?
Wölfe sind intelligent, sehr beweglich und anpassungsfähig. Sie können an einem Tag (und einer Nacht) an die 50 km zurücklegen. Sie siedeln sich dort an, wo sie ein günstiges Nahrungsangebot und Rückzugsmöglichkeiten finden. Besonders junge Wölfe, die vom elterlichen Territorium abwandern, sind extrem mobil. Bei einer geschätzten Population von circa 20.000 Wölfen innerhalb der EU-Staaten sollten wir die Vorstellung von Südtirol als wolfsfreie Insel schnell ad acta legen.
Diese in bestimmten Medien immer wieder kolportierte Vorstellung eines wolfsfreien Südtirols geht mit der Realität schlicht nicht zusammen. Diese Tatsache muss man den Landwirten auch ehrlich kommunizieren.
Wölfe erkennen freie und günstige Reviere sehr schnell und besetzen sie. Wird ein Wolf abgeschossen, bedeutet das für andere Wölfe, ein freies Gebiet tut sich ihnen auf. Denn ein Wolfspaar und ein Wolfsrudel kontrollieren konstant mehrere hundert Hektar, in das sie normalerweise keine anderen familienfremde Wölfe lassen.
Es muss also flächendeckend mit ständiger Wolfspräsenz gerechnet werden. Die momentane Strategie, 99% der Südtiroler Almen als Weideschutzgebiete auszuweisen und somit Abschüsse in Folge von schweren Schäden am Nutztierbestand als einzige Schutzmaßnahme stehen zu lassen, wird der Südtiroler Almwirtschaft nicht wirklich helfen.
In Ländern, in denen bereits seit Jahren Wolfsabschüsse erfolgen, hat sich gezeigt, dass Herdenschutz weit effektiver ist. So haben wir in Norwegen, wo ausschließlich auf den Abschuss von Wölfen gesetzt wird, jährlich 34 gerissene Schafe pro Wolf, während es im benachbarten Schweden mit Herdenschutz jährlich lediglich 0,8 Schafe pro Wolf sind (bei Bären 20 in Norwegen und 0,01 in Schweden; bei Luchs 16 in Norwegen und 0,1 in Schweden). Und das, obwohl nur 7 % des norwegischen Schafbestandes innerhalb des dortigen Wolfsgebietes gehalten werden, während in Schweden die Hälfte aller Schafe in Wolfsgebieten weiden. Herdenschutz-Maßnahmen – und zu diesem Schluss ist auch die EU-Kommission in ihrem letzten Bericht gekommen – sind und bleiben die effektivste Methode um Nutztierrisse zu vermeiden.
Auch die geforderte Herabstufung des Schutzstatus der Art Wolfes von Anhang IV auf Anhang V setzt weiterhin einen guten Erhaltungszustand voraus, auch in Südtirol. Der Wolf wird also weiterhin geschützt bleiben. Um ein Weidemanagement werden wir nicht herumkommen.
Was sagt die Fachliteratur und die Statistiken zu Wolfsentnahmen und deren Auswirkungen auf Nutztierrisse? Gibt es Fälle, wo es Sinn hat, bestimmte Wölfe zu schießen?
Die Dynamiken von Wolfsabschüssen sind komplex und müssen differenziert betrachtet werden. Die Folgen der Entnahmen großer Beutegreifer können nämlich auch das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt war. So konnte beispielsweise in Slowenien durch Wolfabschüsse keine direkte Besserung ermittelt werden. Studien aus Spanien und Nordamerika zeigen, dass auf Wolfentnahmen sogar mehr Nutztierrisse folgen können. Wir haben bisher noch keine genauen und langfristigen Daten dazu, welche Zahl an Wölfen entnommen werden müssen, um positive Effekte zu erzielen. Die Wirksamkeit von Wolfentnahmen sei nicht ausgeschlossen, ist jedoch stark kontextabhängig.
Auch der Abschuss als Erziehungsmaßnahme ist nicht unumstritten. Der KORA Bericht 202212 aus der Schweiz zeigt zwar einen Rückgang von Rissen nach Wolfsabschüssen in den folgenden Saisonen, jedoch betonen die Autor:innen dieser Studie, dass der Bericht auf Daten beruht, als in der Schweiz und im gesamten Alpenraum wesentlich weniger Wölfe lebten als heute. Die Situation schaut heute, im Jahr 2024, völlig anders aus. Das heißt, wir müssen sie angesichts einer hochdynamischen Wolfspopulation neu bewerten und untersuchen. Dafür braucht es auch ein ausgefeiltes, kontinuierliches Wolfsmonitoring, auch in Südtirol.
Während es Hinweise gibt, dass die gezielte und unmittelbare Entnahme einzelner Individuen durchaus positive Effekte haben kann, machen sich ungezielte und sporadische Einzelabschüsse, mit denen sich das Verwaltungsgericht nun beschäftigen wird, vielleicht aus politischer Sicht bezahlt, aus ökologischer Sicht sicher nicht.
Tatsächlich handelt es sich um ein hochpolitisches Thema: „Kommt der Wolf, geht der Bauer“…
Die Wolfthematik gibt uns die Chance, so einiges zu überdenken und anderes neu zu denken. Mit der steigenden Nutzungsintensivierung der Almhütten und Almflächen, sei es in touristischer, sportlicher oder landwirtschaftlicher Hinsicht, ist auch die Alm als Ökosystem dabei sich zu ändern.
In all den Debatten, die geführt wurden, kristallisiert sich für mich die Figur der Hirten und Hirtinnen immer klarer heraus. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob Weidetiere sich frei bewegen und willkürlich weiden oder ob sie gezielt geführt werden. Nicht geführtes Weiden kann zu negativen Auswirkungen wie Verbuschung und Bodenzerstörung, aber auch zu Überweidung führen, wie wir alle wissen. Und sie geht ganz klar auf Kosten der Biodiversität.
Gut ausgebildete Hirten und Hirtinnen spielen daher eine sehr wichtige Rolle im Management der Herde und der Pflege unserer Almen. Sie beschützen die Tiere, erkennen Verletzungen, behandeln erkrankte Tiere, helfen bei Geburten, versorgen die Lämmer, die von den Muttertieren nicht angenommen werden und machen vieles mehr.
Vergessen wir bitte nicht, dass in Gebieten ohne Wölfe Verluste durch Krankheit, Parasitenbefall, Abstürze, Fehlgeburten bekannt sind, zwischen 5-7% bei gealpten Schafe, eben weil die Hirtin, der Hirte fehlt. Diese langjährig erhobenen Daten kennen wir aus der Schweizer Almwirtschaft und sie sprechen für sich. In Südtirol fehlen uns leider offizielle Zahlen dazu. Wie uns aber von hiesigen Hirten und Züchtern berichtet wurde, sind die Zahlen aus der Schweiz mit denen aus Südtirol durchaus vergleichbar.
Fakt ist: Die gezielte Führung der Weidetiere ist nicht nur Teil einer uralten alpenländischen Kultur, sondern erhält langfristig die von Menschen geschaffene Biodiversität auf den Almen. Und sie hilft die Alpung langfristig zu erhalten. Diese wertvolle Arbeit der Hirten und Hirtinnen soll mehr in den Mittelpunkt rücken, wertgeschätzt und dementsprechend von Politik und Interessensvertretern mitgetragen und gefördert werden. Ich sehe vor allem hier sehr interessante und zukunftsorientierte Lösungsansätze für einige der Probleme auf unseren Almen.
Ich denke, wir können mehr als nur schießen.“